«Armutsbetroffene begegnen einem überall»
Die Caritas hat ihr Standardwerk zur Armut komplett überarbeitet. Das «Neue Handbuch Armut in der Schweiz» erscheint am 1. Juli. Co-Autorin Claudia Schuwey beantwortet Fragen.

Armut in der Schweiz gibt es doch gar nicht. Diese Behauptung hält sich hartnäckig. Was sagen Sie, wenn Sie das hören?
Wenn man die Schweiz mit Ländern vergleicht, in denen noch immer viele Menschen verhungern oder verdursten, dann würde ich sagen: Ja, das stimmt. Eine solche absolute Armut gibt es in der Schweiz zum Glück nicht mehr. Armut muss aber immer im Kontext der jeweiligen Gesellschaft betrachtet werden. In einem hochentwickelten Industrieland wie der Schweiz ist eine Person dann armutsbetroffen, wenn sie deutlich weniger Mittel zur Verfügung hat als die Mehrheit der Bevölkerung und diese Mittel nicht ausreichen, um auf bescheidenem Niveau an gesellschaftlichen Aktivitäten teilnehmen zu können. Geht man von einer solchen Armutsdefinition aus, zeigt sich sehr klar: Es gibt eine erschreckend hohe Zahl von Menschen in der Schweiz, die von Armut betroffen sind. Sie sind nicht in der Lage, ihre Existenz aus eigener Kraft zu sichern, leben und arbeiten unter schlechten Bedingungen, werden öfter krank und sterben früher als finanziell bessergestellte Menschen. Häufig sind sie gezwungen, entwürdigende Gänge durch Sozialämter auf sich zu nehmen, werden auf die eine oder andere Weise diskriminiert und verlieren ihr Selbstwertgefühl. Kinder können keine ausreichende Bildung erlangen und geraten damit in einen Teufelskreis der Armut. So betrachtet kann also sicher niemand behaupten, dass es Armut in der Schweiz nicht gibt.
Sie haben sich über ein Jahr intensiv mit Armut in der Schweiz befasst. Welche Erkenntnis hat Sie am meisten überrascht?
Es gab vieles, das mich überrascht oder erstaunt hat. Zum Beispiel, wie stark das soziale Sicherungssystem noch immer von traditionellen Rollenbildern geprägt ist und diesbezüglich kaum Veränderungen zu erkennen sind. Dies, obwohl sich dadurch vor allem für Frauen, die viel unbezahlte Arbeit leisten, das Armutsrisiko enorm erhöht. Auch dass die Chancenungleichheit in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern extrem gross ist, überraschte mich. Und noch etwas ganz anderes fiel mir auf: Armutsbetroffene oder -gefährdete Menschen begegnen einem überall, auf der Strasse, an den Kassen in den Läden oder in anderen unterbezahlten Jobs, bei der eigenen Arbeit, im Freundes- und Bekanntenkreis. Als ich zum Beispiel einer alleinerziehenden Arbeitskollegin davon berichtete, erzählte sie mir von ihrem Berg aus Krankenkassenprämien- und Steuerschulden, den sie nicht mehr bewältigen kann. Ein Bekannter muss trotz Ausbildung und jahrelanger Berufserfahrung Sozialhilfeleistungen beantragen, weil in seinem Berufsfeld ein Überangebot an Arbeitskräften besteht, und in einer nahegelegenen Kita arbeiten Frauen über mehrere Jahre Vollzeit zu einem Praktikantinnenlohn von 800 Franken pro Monat. Diese und viele andere, ähnliche Beispiele bestätigten für mich, dass Armut in der Schweiz kein Randphänomen, sondern ein sehr verbreitetes und akutes Problem ist.
Viele Menschen möchten nicht als «arm» bezeichnet werden. Wieso ist es trotzdem wichtig, über Armut in der Schweiz zu sprechen?
Diese Menschen verstehe ich sehr gut. Wenn mich jemand als «arm» bezeichnen würde, hätte ich das Gefühl, bemitleidet und bedauert zu werden, schwach und selbst schuld an meiner Lage zu sein. In unserer Gesellschaft werden «arme Menschen» noch immer stigmatisiert. Über Armut zu sprechen ist trotzdem wichtig, da das Armutsproblem in Politik und Praxis noch immer zu wenig Beachtung findet. Für die Betroffenen bedeutet dies, dass ihr Recht auf ein menschenwürdiges Leben und auf soziale Sicherheit nicht gewährleistet ist, für die Gesellschaft, dass sie die Folgekosten der Armut tragen und zunehmende soziale Spannungen in Kauf nehmen muss.
Mit welcher politischen Massnahme würden Sie persönlich zuerst gegen die Armut ansetzen?
Wichtig scheint mir vor allem, dass Bedingungen geschaffen werden, die eine ganzheitliche und differenzierte Sicht auf die individuelle Lebenslage der Betroffenen ermöglichen. Langfristig bringt es zum Beispiel kaum etwas, eine ausbildungslose, sozialhilfeabhängige Mutter in ein prekäres Beschäftigungsverhältnis zu zwingen. Damit die Familie ihre Notsituation dauerhaft überwinden kann, sollte vielmehr in die (Weiter-)Bildung der Mutter sowie in die frühe Förderung der Kinder investiert werden. Dafür müsste aber der Auftrag der Sozialhilfe erweitert respektive die Zusammenarbeit und Koordination mit anderen Stellen – zum Beispiel in den Bereichen der Bildung, des Wohnens oder der Gesundheit – verstärkt werden. Zentral ist dabei auch, dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit vermehrt beim Willen sowie an den Interessen und Fähigkeiten der Armutsbetroffenen ansetzen, damit diese aktiv zur Verbesserung ihrer Situation beitragen und individuell sinnvolle, nachhaltig wirksame Lösungen erzielt werden können.
Interview: Stefan Gribi, Leiter Abteilung Information, Caritas Schweiz
|